Kommentar Samir

Samir wurde in Bagdad geboren und wuchs in der Schweiz auf. Es ist spannend, Samirs Werdegang zu verfolgen: Wie erlebte er die Schweiz der 1960er-Jahre? Wie wurde er politisiert und wie fand er seinen Weg zum Film und zu seiner Rolle als Videopionier? (vgl. Samir Video von Start bis 08.12: Filmen von der Pike auf)

Wie Samir auf Video stiess, schildert er wie folgt: «Ich hörte, dass es Video gäbe. Und ich las dann auch, dass es einen Videoladen gab und lernte diese Leute kennen. Sie tauchten jeweils mit ihren riesigen Kameras an Demos auf. Dann ging in Zürich am 30. Mai 1980 der Opernhauskrawall los. Ich steckte in diesem Umfeld voll drin. Ich erinnere mich, wie ich nach einer Filmclub-Vorführung im 5er-Tram sass und es plötzlich hiess: Wegen einer Demonstration muss der Verkehr umgeleitet werden. Wir sprangen am Bellevue sofort raus und machten mit. So sah ich, dass es Leute gab, die mit Video arbeiteten.»

«Als dann die Bewegung losging, war ich bei der Kulturgruppe dabei. Es interessierte mich, witzige und lustige Aktionen zu machen: Wir bauten eine Strassenbarrikade mit Fernsehapparaten, die wir dann entzündeten, oder wir machten Farbattacken. Das mit zu entwickeln war spannender für mich, als es zu filmen. Filmemachen war für mich ein Beruf. Ich ging ja jeden Tag weiter ins Studio und arbeitete dort 12 Stunden. Und am Abend ging ich in die Wohngemeinschaften und an die Vollversammlungen der Bewegung. Schliesslich wurde mir von der Condor Films gekündigt. Sie hatten gemerkt: Der Junge ist an den Wochenenden an den Strassenschlachten dabei.» (vgl. Samir Video 08.38: Die Aktivisten vom Videoladen)

Samir wurde eine zentrale Figur im Videoladen, erweiterte das Spektrum von Bewegungsvideos zu Experimentalvideos (Morlove) und gründete dann zusammen mit anderen ehemaligen Mitgliedern des Videoladens die Dschoint Ventschr Filmproduktion, die bis heute über 100 Dokumentar- und Spielfilme hergestellt hat.

Die Pionierzeit des Mediums Video bilanziert Samir im Rückblick wie folgt: «Die Dekade ab etwa 1977 war eine Zeit der radikalen Umbrüche. Nicht nur in der Musik, als der Punk in New York geboren wurde, auch auf der politischen Ebene. Der grosse Traum linker Gruppen von der Revolution war Ende der 1970er-Jahre ausgeträumt. Dann kam der endgültige Siegeszug von Video als Medium. Es ist kein Zufall, dass MTV damals auf dem Höhepunkt war und die Musikindustrie mit Video experimentierte. Für mich war klar: Wir können nicht mehr Video für das ‹Volk› machen. Die Massen werden sich nicht erheben, und wir werden als Videoladen auch niemandem weiterhelfen können, nur uns selbst.» (vgl. Samir Video 16.19: Die Dekade der grossen Umbrüche)

Ich wünsche eine anregende Videolektüre!

Heinz Nigg

Das unabhängige Videoschaffen und das internationale Phänomen der Jugendbewegungen in Europa befeuerten sich in den 1970er- und 1980er-Jahren gegenseitig: Die jungen Aktivisten entdeckten das Video als neues Medium, brachten Proteststimmungen zum Ausdruck und kämpften um autonome kulturelle Freiräume. Videoproduktionen entstanden partizipativ, unmittelbar und schnell; sie markieren einen wichtigen Schritt ins digitale Zeitalter.

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